Herr Prof. Spitz, Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren mit der Entwicklung eines ganzheitlichen Präventionskonzeptes. Wie sehen Sie die Debatte um Sinn und Unsinn einer Supplementation mit Vitaminen, Aminosäuren und Mikronährstoffen?
Diese unselige Diskussion existiert seit Jahren und beruht auf der Behauptung der Ernährungsgesellschaften, dass sich jedermann gesund ernähren könne – fünf Portionen Gemüse und Obst täglich reichen hierzu aus. Diese Aussage stimmt gleich aus zwei Gründen nicht: Zum einen schaffen die Bundesbürger nachweislich keine fünf Portionen Gemüse und Obst täglich und zum anderen hat die Konzentration der Mikronährstoffe in den Produkten durch die industrielle Herstellung im Laufe der Jahre erheblich abgenommen. Die Ausbildung in Ernährungsmedizin steht zwar im Stundenplan, wird jedoch kaum umgesetzt. Unterm Strich bedeutet dies, dass wir zwar in einer Überflussgesellschaft leben und dennoch eine Mangelernährung haben, um die sich leider die Mainstream-Medizin nicht kümmert. Daher bleibt den Bürgern keine andere Möglichkeit, als sich selbst mit den benötigten Nährstoffen zu versorgen.
Ich muss zugeben, dass auch ich seit Jahren präventiv einige Mittel substituiere. Ich mache das, seitdem eine Person in meinem Bekanntenkreis ihre Multiple-Sklerose-Erkrankung stoppen konnte. Der zuständige Neurologe begreift bis heute nicht, weshalb im MRT keine Entzündungsherde mehr zu sehen sind, obwohl sie keine Interferone spritzt. Ein Einzelfall?
Mit der Multiplen Sklerose (MS) sprechen Sie ein Paradebeispiel an. Es ist eine multikausale Erkrankung und einer der Auslöser ist häufig ein ausgeprägter Mangel an Vitamin D, von dem wir inzwischen wissen, dass zu seinen vielfältigen Aufgaben im Körper auch der Schutz der Nervenzellen gehört. Das Krankheitsbild der MS bessert sich eindrucksvoll und nachhaltig, wenn das Vitamin-D-Defizit ausgeglichen wird. Die Studienlage ist eindeutig, jedoch vielen Neurologen nicht bekannt.
Bleiben wir doch gleich ein wenig bei Vitamin D. Hier wird ja sogar von einem »Hype« gesprochen…
In meinen Augen ist das kein Hype, sondern vielmehr ein »Hope«, das heißt Hoffnung für viele Menschen mit schweren Erkrankungen. Daher habe ich für einen meiner Vorträge auf YouTube auch genau diesen Titel gewählt: »Vitamin D – Hype oder Hope?«. Die Besucherzahl von mehr als fünf Millionen spricht dafür, dass die Menschen offensichtlich an diesem Thema interessiert sind.
Der Grund für dieses Interesse liegt darin, dass Vitamin D gar kein Vitamin, sondern die Vorstufe eines Hormons ist, welches alle Zellen benötigen – nicht nur die Knochen- und Darmzellen im Rahmen des Kalziumstoffwechsels. Zu den vielfältigen Aufgaben des »Superhormons« gehören neben dem schon erwähnten Schutz der Nervenzellen (nicht nur bei der MS, sondern auch bei Demenz und Depression) auch die Verhütung von Frühgeburten und Schwangerschaftskomplikationen, die Verhinderung von Bluthochdruck und zahlreichen verschiedenen bösartigen Tumoren. Eine weitere, wichtige Aufgabe von Vitamin D ist die Steuerung der Immunfunktion. Leider herrschte während der Covid-19-Pandemie mal wieder Funkstille in den zuständigen öffentlichen Institutionen in Bezug auf das effektive und nebenwirkungsfreie Vitamin D.
Und was ist mit dem Problem der Überdosierung? Sie empfehlen in Ihren Büchern wesentlich höhere Dosierungen als von dem Bundesinstitut für Risikobewertung vorgeschlagen. Können Sie dazu noch etwas sagen?
Ja, das alte Schreckgespenst der Überdosierung bei Vitamin D! Natürlich kann man auch Vitamin D – wie jede andere Substanz – überdosieren. Dazu benötigt man jedoch eine Zufuhr von 40.000 IE täglich über mehrere Wochen, um einen Blutspiegel zu erzeugen, der zu dem eigentlichen Problem der Hyperkalzämie führen kann. Andererseits reichen die von den offiziellen Institutionen für Erwachsene empfohlenen 600 – 800 IE hinten und vorne nicht aus! Aber dieses Paradox scheint in der Medizin niemanden zu stören: Die Säuglinge mit ihren vier bis fünf Kilogramm Körpergewicht bekommen einvernehmlich 600 IE gegen die Rachitis und einem »gestandenen Mannsbild« mit 100 Kilogramm Körpergewicht empfiehlt man dieselbe Dosis. Wie soll das gehen?
Wegen des kontinuierlich steigenden Übergewichts in der Bevölkerung empfehlen wir übrigens inzwischen anstelle einer bestimmten Dosierung für alle eine individuelle Dosis, die ausreicht, zu einem Zielbereich von 40–60 ng Vitamin D im Blut zu führen. Für die gebrechliche Großmutter mögen da 3.000 IE genügen, beim übergewichtigen Enkel können es auch mal 10.000 IE werden.
Richtig zur Sache geht es bei der Hochdosistherapie des Kollegen Coimbra aus Brasilien, den ich vor einigen Jahren zu einem Workshop nach Frankfurt eingeladen habe. Er verabreicht Patienten mit der eingangs erwähnten MS bis zu 200.000 IE pro Tag. Das geht allerdings nur gut, wenn man sich strikt an das von ihm entwickelte »Coimbra-Protokoll« hält. Zum Glück haben wir inzwischen eine ganze Reihe von Therapeuten in dieser speziellen Therapie von Autoimmunerkrankungen ausgebildet, da die Mainstream-Medizin mit ihren teuren Präparaten hier wenig Erfolge aufzuweisen hat.
Vitamin D sollte man übrigens – wie alle anderen Supplemente auch – beim Produzenten seines Vertrauens kaufen und nicht bei »Billigheimern« im Internet oder beim Discounter um die Ecke, alleine schon wegen der korrekten Dosierung: Zu wenig ist genauso problematisch wie zu viel des Guten!
Zu der »Volksseuche« Herz-Kreislauferkrankungen nehmen Sie in Ihren Vorträgen gerne Stellung. Können Sie uns hier ein wenig mehr zu natürlichen Heilmitteln erzählen?
Gerne. Es handelt sich in der Tat um eine Volksseuche: 60% der Deutschen sterben an oder mit einer Herz-Kreislauferkrankung! Dies lässt sich mit Mitteln aus der Bordapotheke nicht nur präventiv verhindern, sondern auch mit Erfolg behandeln. Daran beteiligt sind neben Vitamin D andere bekannte Substanzen wie Vitamin C, Lysin und Granatapfelextrakte, aber auch eine angemessen große Portion Fischöl und vor allem eine ausreichende körperliche Aktivität. Die Forschungsergebnisse der letzten Jahre erläutern, woher diese Erfolge stammen: Der größte Bösewicht in diesem Gesundheitsdrama ist die entzündliche Veränderung der Gefäßwände, die nicht nur zu ihrer Versteifung und damit zu Hypertonus führt, sondern auch zu Plaquebildung und Herzinfarkt. Die zuvor genannten Substanzen sind nun in der Lage, diese Veränderungen nicht nur präventiv zu verhindern, sondern zumindest teilweise auch wieder zu beseitigen.
Wie sollte sich jemand, der sich darüber noch keinerlei Gedanken gemacht hat, dem Einstieg in die Welt der Zusatzstoffe nähern?
Da das falsche Verhalten bei sehr vielen Menschen die Folge eines grottenschlechten Gesundheitswissens ist, bieten wir auf der Internetplattform meiner Akademie einen Fragebogen an, dem man online ausfüllt. Als Ergebnis erscheint ein großer »Schutzschirm der persönlichen Gesundheitssituation«, mit dem interaktiv gearbeitet werden kann. Klickt man eine bestimmte Frage auf dem Bildschirm an, wird eine Beurteilung der abgegebenen Antwort dargestellt sowie eine Empfehlung zur Beseitigung des jeweiligen Problems bzw. zu einer weiterführenden Diagnostik, z.B. in Form von Laboruntersuchungen, ausgesprochen. Für Letztere ist nämlich zum Teil kein Arztbesuch – mit frustranen Diskussionen über Sinn und Unsinn dieser Maßnahme – mehr erforderlich, da das benötigte Kapillarblut, wie bei der Blutzuckerbestimmung, vom Betroffenen selbst gewonnen werden kann. Das mit einem Bluttropfen benetzte Filterpapier wird nach dem Trocknen ins Labor geschickt, das Ergebnis liegt einige Tage später vor. Selbst komplette Fettsäureanalysen sind auf diesem Wege möglich.
Für andere Parameter, wie z. B. ein Aminosäurenprofil, ist immer noch eine venöse Blutprobe erforderlich. Außerdem bedarf es bei der Interpretation zahlreicher Parameter eines gerüttelten Maßes an Fachkompetenz. Es ist daher sinnvoll, sich einen Arzt oder Heilpraktiker zu suchen, der mit diesen Werten etwas anfangen kann.
Ein Dauerthema bei Golfern ist die »Entzündung« und Überlastung von Gelenken etc.! Böse Zungen behaupten sogar, dass es sinnvoll wäre, am ersten Abschlag einen Automaten mit Schmerzmitteln aufzustellen. Haben Sie Tipps zur natürlichen Behandlung von Entzündungen und Schmerzen?
Dem Thema »Schmerzbehandlung« kommt sicherlich die gleiche Bedeutung zu wie den schon erwähnten Herz-Kreislauferkrankungen, zumal die Zahl der Betroffenen noch deutlich größer ist. Schaut man auf das riesige Angebot an Schmerzmitteln und dem nach Tonnen geschätzten Verbrauch pro Jahr, sollte dieses Thema eigentlich abgearbeitet sein. Leider ist dem nicht so, da auch hier wieder der klassische Fehler der Mainstream-Medizin darin besteht, mit mehr oder minder großem Erfolg an dem Symptom Schmerz zu werkeln, ohne die eigentlichen Ursachen zu suchen und zu beseitigen.
Ferner kommen auch hier die schon bei den Herz-Kreislauferkrankung erwähnten Entzündungen ins Spiel, die solchen Schmerzzuständen in der Regel zugrunde liegen. Da die biochemischen Mechanismen inzwischen recht gut erforscht sind, lassen sich mit mehr oder weniger großem Aufwand Substanzen entwickeln, die erfolgreich in diese Mechanismen eingreifen. Leider ist dieser Erfolg nicht nachhaltig, das heißt eine Dauermedikation und mit ihr ein Rattenschwanz an Folgeerscheinungen sind vorprogrammiert.
Während im letzten Jahrhundert die Blutsenkung die Messlatte für Entzündungen im Körper war, liefert uns heute das »C-reaktive Protein« (CRP) wesentlich genauere Informationen. Die Bedeutung eines soliden Parameters für die Entzündungsdiagnostik wird klar, wenn wir uns an die altbekannte Spruchweisheit erinnern: »Die Entzündung ist die Mutter aller Krankheiten«. Dabei ist es ganz wichtig zu verstehen, dass es sich hier nicht um Erscheinungen wie eine Blasenentzündung handelt, sondern um Steuerungsvorgänge, die der Körper selbst auslöst, z. B. um eine Wundheilung in Gang zu setzen. Die für diese komplexen Steuerungsvorgänge benötigten Substanzen stammen zum Teil aus der Nahrung. So wirken beispielsweise die im Fisch- und Algenöl enthaltenen Omega-3-Fettsäuren EPA und DHA entzündungshemmend, während die Omega- 6-Fettsäuren aus Pflanzen- und Tierfetten Entzündungen fördern. Noch komplizierter wird die Situation, wenn im Rahmen von Krankheitsbildern, wie dem weit verbreiteten Diabetes Typ 2, das Entzündungsgeschehen im Körper begünstigt wird. Hier ist es dringend angezeigt, fehlende Botenstoffe durch Supplemente zu ersetzen und die eigene Produktion entzündungshemmender Zytokine (z. B. durch eine gesteigerte körperliche Aktivität) zu steigern.
Die Biochemie des Körpers leuchtet uns ein, aber lassen Sie uns abschließend noch die Gretchenfrage stellen: Ist das alles sinnvoll bei mäßig gesundem Lebenswandel mit zu viel Fleischkonsum, Genuss- und Umweltgiften?
Hier wird einmal mehr deutlich, warum die verschiedenen Faktoren der Lebensführung solch einen immensen Einfluss auf unsere Gesundheit haben. Bei den »positiven Lebensstilfaktoren« handelt es sich um evolutionäre Ressourcen, die das System Mensch schlicht und ergreifend für seinen korrekten Betrieb benötigt. Um die Beschaffung brauchte sich seinerzeit keiner zu kümmern, da sie Bestandteil der natürlichen Umwelt waren. Bedingt durch den technischen Fortschritt der Zivilisation haben wir leider einen Großteil dieser lebenswichtigen Elemente in unserer modernen Umwelt entfernt – egal ob es sich dabei um Sonnenlicht und Vitamin D, die Dunkelheit der Nacht oder Mikronährstoffe in der Nahrung handelt, um nur einige wenige Faktoren zu nennen. Bedauerlicherweise haben wir im Gegenzug die Zahl der Schadfaktoren in unserer Nahrung ganz wesentlich erhöht: angefangen von Schwermetallen, Pestiziden und Herbiziden bis hin zu Mikroplastik und Transfetten. Abgerundet wird dieses »Selbstmordprogramm« durch Coca-Cola, Tabak, Alkohol-Abusus und Dauerstress, die schon zu den Oldtimern zählen. Wer sich an dem Wort »Selbstmordprogramm« stört, der sei daran erinnert, dass die USA als Anführer dieser Kehrseite der Zivilisation inzwischen eine rückläufige Lebenserwartung ihrer Bevölkerung zu beklagen hat. Also ja, es ist sogar sehr wichtig, den genannten Faktoren etwas entgegenzustellen!
Wir danken für das informative Gespräch!
Prof. Dr. Jörg Spitz hat nach seiner ersten Karriere als Facharzt für Nuklearmedizin die Zusatzausbildungen in Ernährungsmedizin und Präventionsmedizin absolviert und widmet sich seit rund 15 Jahren der Prävention sowie der Entwicklung ganzheitlicher Konzepte zur Behandlung nicht übertragbarer Krankheiten. Neben den erwähnten Videovorträgen auf YouTube fokussiert sich seine Buchproduktion auf das Thema Vitamin-D. Sein neuestes Werk trägt den Titel: »Vitamin D – immer, wenn es um Leben und Tod geht«.